Aktiv gegen die Abschaffung der Wahlfreiheit des Auszahlungsweges bei Sozialleistungen
„Der Zugang zu existenzsichernden Leistungen ist ein Menschenrecht, kein bürokratisches Privileg für Menschen mit Bankkarte.“
erklärt Sylvia Rietenberg, Mitglied des Bundestages
im Rückblick auf das parlamentarische Verfahren zur Änderung des § 47 SGB I.
Am 13. November 2025 hat der Deutsche Bundestag das SGB VI-Anpassungsgesetz mit den Stimmen der Regierungsfraktionen beschlossen. Damit wurde auch die bisherige Wahlfreiheit beim Auszahlungsweg von Sozialleistungen nach § 47 SGB I aufgehoben. Künftig gilt grundsätzlich nur noch die Überweisung auf ein Konto. Für Menschen ohne Bankkonto, das betrifft insbesondere wohnungslose und akut arme Menschen, bedeutet diese Änderung eine spürbare Verschlechterung ihres Zugangs zum Existenzminimum.
Hintergrund: Warum es überhaupt zu dieser Änderung kam
Ausgangspunkt war die Entscheidung der Deutschen Postbank, das bisher genutzte Verfahren der Zahlungsanweisung zur Verrechnung (ZzV) zum 31. Dezember 2025 einzustellen. Dieses Verfahren ermöglichte es Menschen ohne eigenes Konto, sich Sozialleistungen bar auszahlen zu lassen.
Im Rahmen eines Gesetzesverfahrens mit verschiedensten Anpassungen in einer Vielzahl verschiedener Gesetze (ein sogenanntes Omnibusgesetz) wurde die Einstellung des ZzV-Verfahrens als Grund genannt um eine grundsätzliche Änderung der Wahlfreiheit zum Auszahlungsweg von Sozialleistungen zu beschließen. Aus unserer Sicht wäre es trotzdem es technisch und organisatorisch problemlos möglich gewesen, alternative Auszahlungswege fortzuführen, etwa Barauszahlungen in Jobcentern, Scheckverfahren oder Barcode-/Scancode-Modelle. Statt diese Wege zu sichern, entschied sich die Bundesregierung jedoch, die Wahlfreiheit vollständig zu streichen und Alternativen nur mit einer Härtefallregelung zu ermöglichen. Die Betroffenen ohne Konto sollen zukünftig nachweisen, dass es ihnen ohne eigenes Verschulden nicht möglich ist, ein Konto zu eröffnen. Statt Wahlfreiheit haben die Menschen nun zusätzlichen bürokratischen Aufwand auf ihrer Seite.
Der parlamentarische Verlauf
Erste Warnungen aus der Praxis und Parlamentsberatung
Bereits in der Entwurfsphase des Gesetzes gab es kritische Hinweise von der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. Zugleich kam es zu erheblichen Irritationen in der Verwaltung. Einzelne Jobcenter kündigten vorschnell an, Barauszahlungen bereits im Herbst einzustellen, statt zum von der Regierung geplanten Datum am 01.01.2026. Wir haben dieses Vorgehen kritisch gegenüber dem Bundesarbeitsministerium adressiert und die drohenden Auswirkungen auf die Betroffenen deutlich gemacht. Auch haben wir mit einer schriftlichen Frage die Betroffenenzahlen erfragt.
Im Ausschuss für Arbeit und Soziales wurde die Problematik ausführlich diskutiert. Dort machte versuchte Sylvia Rietenberg deutlich zu machen, dass die geplante Härtefallregelung kaum realistisch angewendet werden kann. Menschen ohne Konto sollten künftig nachweisen, dass ihnen die Kontoeröffnung „ohne eigenes Verschulden“ nicht möglich war. Gerade on Obdachlosigkeit betroffene Menschen können aber schon Probleme mit fehlenden Dokumenten, digitalen Ident-Verfahren und ähnlichem scheitern.
Öffentliche Anhörung: Deutliche Kritik unseres Fachexperten
In der Anhörung bestätigte der von uns eingeladene Experte der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. unsere Kritik: Die Abschaffung der Wahlfreiheit trifft besonders verletzliche Personengruppen hart.
„Ein Viertel der Menschen in der Wohnungslosenhilfe hat kein Konto – nicht, weil sie es nicht wollen, sondern weil sie es faktisch nicht können.“
Martin Kositza, BAG Wohnungslosenhilfe e.V.
So führte er aus, dass rund 25 Prozent der Menschen in der Wohnungslosenhilfe kein Konto haben. Er verwies auf zahlreiche reale Hürden, wie fehlende Ausweispapiere, technische Barrieren beim Video-Ident-Verfahren, Ablehnungen durch Banken oder fehlende Endgeräte. Alternative Auszahlungsmodelle seien hingegen praxiserprobt und niedrigschwellig.
Der Änderungsantrag der Grünen
Um die Wahlfreiheit zu erhalten, hat Sylvia Rietenberg für die grüne Bundestagsfraktion einen Änderungsantrag eingebracht. Der Vorschlag sah vor, den § 47 SGB I und somit die Wahlfreiheit des Auszahlungsweges unverändert zu lassen und stattdessen zu prüfen, wie eine bundesweit einheitliche, gebührenfreie Bargeldauszahlung für Menschen ohne Konto gesichert werden kann.
Die Regierungsfraktionen haben diesen Antrag im Ausschuss jedoch abgelehnt.
Verabschiedung des Gesetzes
Am 06. November 2025 wurde das SGB VI-Anpassungsgesetz schließlich im Plenum angenommen. Der § 47 SGB I wird damit so geändert, dass Sozialleistungen künftig grundsätzlich nur noch auf ein Konto ausgezahlt werden. Die vorgesehene Härtefallregelung mit höherem Aufwand für die Betroffenen bleibt bestehen.
Für viele wohnungslose Menschen bedeutet das: Die Hürden, um ihr Existenzminimum zu sichern, werden steigen.
Fazit
Der Zugang zu existenzsichernden Leistungen darf nicht vom Besitz eines Bankkontos abhängen. Die Entscheidung des Bundestages ist ein Rückschritt für soziale Teilhabe und berührt grundlegende Fragen der Menschenwürde. Wir werden weiterhin dafür arbeiten, dass in der Gesetzgebung und der Verwaltungspraxis realistische und menschenwürdige Lösungen für kontolose Leistungsberechtigte gefunden werden.
Alternative Auszahlungswege müssen erhalten und weiterentwickelt werden, und sie dürfen nicht aus rein verwaltungstechnischen Gründen wegfallen.
Downloadbereich/Links
- Änderungsantrag der Grünen zum § 47 SGB I
- Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
- Antwort der schriftlichen Frage zur ZzV-Einstellung, S. 112
- Pressebericht (taz, 03.11.2025): „Ohne Konto keine Kohle?“
- Informationen zur Anhörung vom 03.11.2025 und Mitschnitt der Anhörung vom 03.11.2025